I. Vorgeplänkel
Gegenwart (Frankreich, Malemort du Comtat)
Campingplatz Font Neuve, 28. Juni 2019:
Nun hocken wir also hier, auf einem Campingplatz de Luxe mitten in der Provence. Das Durchschnittsalter der Gäste liegt bei zirka 75 Jahren, und es wimmelt nur so vor frohgelaunten Holländern. Die Niederlande hat diesen Campingplatz wohl schon vor vielen Jahren eingenommen, denn die Preis- und Anzeigetafeln sind auf Französisch und Holländisch geschrieben. Lange waren wir nicht mehr von so vielen Menschen älteren Kalibers umgeben, endlich sind wir mal wieder die jungen Küken. Inmitten dieser Schar Flachland-Senioren lümmeln wir, also Uli und ich, wohlig in den Plastikliegen am beheizten Swimmingpool.
Uli: das ist mein Mann. Grrrh, ich hasse diesen Ausdruck ‚mein Mann’. Gatte, Gemahl, Gefährte, Ehe- oder Lebenspartner – hört sich doch alles steif und unpersönlich und scheiße an. Dabei ist er doch der mir nahestehendste Mensch überhaupt – wo ist das passende Wort in unserer eigentlich so vielschichtigen Sprache? ‚Supermann’ würde ich vorschlagen – das wäre zumindest in meinem Fall sehr passend, ‚mein Supermann‘. Find ich gut. Jedenfalls machen mein Supermann und ich gerade das erste Mal richtig Urlaub seit acht Jahren, fast ohne dass wir etwas planen, organisieren oder E-Mails beantworten müssen. Wir können es noch gar nicht begreifen, dass wir zurzeit und für die nächsten Monate frei sind von Verpflichtungen. Dieses Gefühl von Leichtigkeit hatten wir seit vielen Jahren nicht mehr – das letzte Mal vielleicht während unserer Weltreise.
Gut, nebenbei planen wir unser Häuschen fürs nächste Jahr, und ich möchte ja dieses Buch schreiben, solange wir noch arbeitslos durch die Welt tingeln. Außerdem planen wir, übernächstes Jahr wieder eine neue Bleibe für Kletterer zu eröffnen. Aber ansonsten haben wir uns um nichts zu kümmern!
Getrübt wird dieses Hochgefühl nur ein wenig, da ich gerade mal wieder meine fast alljährliche Bronchitis habe und dazu heute der heißeste Tag ist, den ich in meinen 45 Jahren je erlebt habe: 44 Grad. Es ist fürchterlich warm. Das Hirn schmilzt dahin und man versucht jede Bewegung zu vermeiden. Selbst in Laos wurden diese Temperaturen nicht übertroffen. Aber da ich krankheitsbedingt so schlapp auf den Füßen bin, komme ich sowieso nur im Schneckentempo voran, es ändert also nichts.
Weshalb wir nun in dieser Situation stecken erzähle ich dir: Vor genau vier Wochen haben wir unser Klettercamp ‚Green Climbers Home‘, das wir in Laos aufgebaut hatten, verkauft und an unsere Nachfolger übergeben. Wir haben also zunächst einmal keine Arbeit, kein Zuhause, keine Kinder, einigermaßen gesunde Eltern, die allein klarkommen, Zeit ohne Ende und so viele Rücklagen, dass wir die nächsten Monate ohne Geld zu verdienen über die Runden kommen. Dementsprechend grinsen wir hier beide vor Glück ziemlich dämlich vor uns hin, schwelgen in Gedanken zurück in die letzten acht Jahre und klopfen uns gegenseitig auf die Schulter, dass letztendlich alles so geklappt hat, wie wir es uns erträumt hatten.
Doch der Weg vom Auswandern und Zurückwandern bis hierher war verdammt steinig, manches Mal eher alptraumartig. Uli und ich haben während dieser Zeit so einige Federn gelassen und den ein oder anderen Knacks mitgenommen – seelisch wie körperlich. Dies ist eigentlich nichts Besonderes – unterhält man sich mit Selbständigen oder Lehrern oder anderen Angestellten in verantwortungsvollen Positionen, so hört man fast überall die gleiche Litanei: Jammerei übers unzuverlässige Personal, die ach so ungerechte Bürokratie, die unverschämten Kunden, Gäste, Schüler und Kollegen. Kurz-vor-Burnout hier, Depressionen da. Kommt uns allen bekannt vor, ist also nichts Neues. Warum schreibe ich dann eigentlich dieses Buch?
Nun, wir wurden immer wieder durchlöchert mit Fragen über Fragen – von Gästen, Freunden, Verwandten, die mit großen Augen unsere Geschichte verfolgten. Sogar Fernsehen, Radio und Magazine fragten wiederholt nach einem Interview. Es scheint also einige Menschen zu interessieren, wie und warum zwei Langnasen sich mit einem Klettercamp in Laos niederließen.
Ich brauchte lange, mich überzeugen zu lassen, ein Buch zu schreiben, denn für so wichtig nehme ich mich und uns nicht, um jedermann unsere Erfahrungen aufs Auge drücken zu wollen. Es war vor allem Manfred, Ulis Vater, der mich immer aufs Neue bestärkt hat, unsere kleinen Episoden und Erlebnisse zu Papier bzw. Laptop zu bringen, der mir versicherte, meine Berichte aus Laos seien unglaublich spannend. Und das nicht nur aus schwiegerväterlicher Verbundenheit. Als auch Uli und einige Freunde anfingen, auf mich einzureden, konnte ich mir langsam vorstellen, dass es wirklich schön wäre, all das Erlebte festzuhalten. Also fing ich an zu schreiben… Und nun ist das Buch da…voilá:
II. Die ausgebremste Weltreise
„Es sollte eigentlich eine ganz normale Weltreise werden…“
Mit diesem Eintrag in unseren Für-Verwandte-und-Freunde-Reiseblog machten wir es offiziell. Als hätten wir einen Vertrag unterzeichnet. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Ganz schön mulmig war uns zumute, als wir am 15. Januar 2011 in Tonsai (Thailand) auf den Button ‚Veröffentlichen‘ klickten. Und gleichzeitig waren wir ziemlich amüsiert, als wir uns die Gesichter unserer Freunde vorstellten, wenn sie von unseren Plänen lesen würden. Unsere Familien hatten wir schon im Vorfeld per E-Mail vorgewarnt und haben somit sämtliche Vorbehalte, Warnungen, Bedenken und Zweifel über uns ergehen lassen. Klar, die Familie brach nicht grad‘ in Jubel aus, als sie von unseren Auswander-Absichten hörten. Unsere Freunde dagegen waren hin- und weg.
Keine Ahnung, was eine ‚normale Weltreise’ ausmacht, aber zumindest hatten wir bei unseren Reisevorbereitungen nicht im Entferntesten daran gedacht, irgendwo hängen zu bleiben. Und dann ausgerechnet in Laos, einem der am wenigsten entwickelten Länder Südostasiens, von dem ich vor unseren Reiseplänen noch nicht einmal gehört hatte, wie ich gestehen muss. Aber genau das war es, was die ganze Sache wohl noch reizvoller gemacht hatte.
Doch zunächst mal von vorne.
Achtung, Zeitsprung zurück! Ende 2009 bis Anfang 2010.
Unsere Planung für die Weltreise sah folgendermaßen aus:
Drei Monate Südostasien, drei Monate Mittelamerika mit zehn Tagen Abstecher nach Kalifornien. Jedes Land, das wir ansteuern wollten, untersuchten wir natürlich sorgfältig auf die Klettermöglichkeiten hin. Länder ohne Kletterfelsen fielen also gnadenlos durch. Sechs Monate Kletterurlaub! Zwei Jahre gespart, geplant und vorbereitet, um ein halbes Jahr dem Alltagstrubel zu entkommen, klasse! Nicht dass wir ein schlechtes Leben gehabt hätten. Uli arbeitete seit sechzehn Jahren als Schreiner, und ich war die letzten Jahre in einem Jobportal für Künstler beschäftigt, bei dem ich neben Buchhaltung auch ein wenig mit Kundenservice zu tun hatte. Wir hatten immer unser freies Wochenende, fast nie Überstunden, eine kleine süße Wohnung in Köln-Sülz, ein halbwegs fahrendes Auto, großartige Freunde, Hallenkletterei im Winter – im Sommer ging’s an die Felsen. Mindestens dreimal pro Jahr Kletterurlaub, mal zu zweit, mal mit Freunden. Alles in allem ein recht entspanntes Leben.
Klar, die Arbeit nervte. Früh aufstehen, durch den Verkehr gurken, sich mit Kunden rumplagen…musste ich nicht unbedingt haben. Vor allem im Winter fühlte ich mich der besten Stunden beraubt, wenn ich im Dunkeln aus dem Haus zur Arbeit ging und im Dunkeln wieder heimkam. Umso besser, wenn wir genau den kalten und faden Drecksmonaten entkommen konnten.
Oktober 2010 – Thailand
Am 4. Oktober 2010 ging`s los. Unsere Bosse hatten wir erfolgreich überzeugt, mein Jahresabo fürs Modern Dance im Cologne Dance Center konnte ich ein halbes Jahr aussetzen, unsere Wohnung immerhin für drei Monate untervermieten und unseren alten Wagen kostenlos in einer Garage von Freunden von Ulis Eltern unterstellen. Ansonsten hatten wir nicht viel zu regeln. Gut, wenn man wenig Krempel hat, dann muss man sich auch nicht um so viel kümmern.
Erste Station war Thailand: Kho Phi Phi, Tonsai, Kho Yao Noi, Chang Mai. Ein ziemlich verregneter Monat (eigentlich sollte Monsunzeit schon vorüber sein), aber dennoch gingen wir ziemlich oft klettern. Immer ein wenig Sightseeing zwischendurch, wir wollten ja auch was von Land und Leuten sehen. Uli kannte Südostasien schon von früheren Urlauben, aber für mich war dies eine völlig neue Welt. Ganz schön abgefahren, diese Asiaten. Die erste Lektion war für mich: Akzeptiere den Knüsel ! Du kannst Asien nicht aufräumen. Mein Ordnungssinn wurde hier schon ganz schön auf die Probe gestellt – und in Vietnam und Laos wurde es nicht besser! Jesses, wie wenig Sinn für Ästhetik kann ein Mensch ertragen? Hier schien es eine ganze Nation nicht zu jucken, was ich dann fast schon wieder faszinierend fand.
Was noch neu war für mich: Endlich nicht mehr frieren. Warum wurde ich als Kind eigentlich immer zur Nordsee geschleppt, wo es doch so feine, warme Orte auf der Welt gab? Von den Holland-Trips hatte ich vermutlich meinen Hau weg, dass ich beim Gedanken an Wasser gleichzeitig immer ans Frieren denken musste. In Thailand wurde ich eines Besseren belehrt: Meerwasser kann wohlig warm sein!
Da unser Budget recht bescheiden war, quartierten wir uns immer in billigen, schäbigen Hütten mit zahlreichen Mitbewohnern ein. Von Kröte über Blutegel, Spinnen, Mäusen, Kakerlaken war alles Kleingetier offensichtlich mitgebucht. Sogar eine Fledermaus war einmal mit von der Partie. Damals machte es uns gar nicht viel aus, in solchen Behausungen unterzukommen, es gehörte irgendwie zum Backpacker-Dasein dazu. Ein feines Hotel wäre natürlich angenehmer gewesen, hätte sich jedoch nicht richtig angefühlt. Inzwischen bin ich aber froh, dass ich diese Erfahrung schon hinter mir habe und echt nicht mehr brauche.
Die Landschaft, die Kletterei, Sonne, Meer, Strand, Palmen, Felsen wohin wir sahen…das alles war atemberaubend. Wir fühlten uns so frei, genossen jeden Urlaubstag. Wie oft schwärmten wir rum mit einem Schluchzer: „Unglaublich…“, und meinten damit: „Krass, wir sind nun mittendrin in unserem Weltreisetraum! Und noch krasser: wir haben noch fünf weitere Monate vor uns! Wir können machen was wir wollen! Wie geil ist das denn?“ Um aber nicht täglich tausendmal so viele Worte verlieren zu müssen, blieb es bei einem immer wieder staunenden, fast schon verblüfften ‚unglaublich!‘. Der jeweils andere wusste schon, was gemeint war.
Beim Anblick der vielen Klettermöglichkeiten fantasierten wir manches Mal, wie es wohl wäre, länger in Thailand zu bleiben, um Kletterrouten zu erschließen und vielleicht irgendwann mal irgendetwas irgendwie mit Klettern zu machen. Ziemlich vage so in den Raum gestellt, waren wir beide sehr fasziniert von dieser Rumspinnerei. Es machte einfach Spaß, sich in Gedanken auszumalen, wie wir unser altes Leben komplett auf den Kopf stellen könnten.
Nach einem Monat Thailand stand Laos auf dem Programm.
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November 2010 – Laos
Huay Xai – Luang Phrabang – Vang Vieng
Von Huay Xai aus, einer kleinen Stadt im Norden Laos, schipperten wir mit einem ‚Slow Boat‘ zwei Tage den Mekong runter. Diese Art von Tourismus, von der man vermutete, mal was ganz anderes als die Anderen zu machen, um sich dann in einer Masse von Gleichgesinnten wiederzufinden, die auch mal was ganz anderes machen wollten als die Anderen. Dass wir nach einem Monat Backpacker-Dasein immer noch so dumm sein konnten, einem Lonely-Planet-Vorschlag nachzugehen und dabei zu denken, man hätte diesen Eintrag als Einzige gelesen.
Die vermeintlich gemütliche Bootsfahrt ähnelte demnach eher einem Viehtransporter. Uli und ich fanden am ersten Tag keinen Sitzplatz auf dem Holzkutter, sodass wir acht Stunden auf dem Boden auf unserem Gepäck hockend verbrachten. Unser Blick war demnach zwangsläufig immer nur nach oben gerichtet, außer Himmel bekamen wir also nicht viel zu Gesicht. So hatten wir dann die wunderbare Gelegenheit, stundenlang die tumbe Masse ‚Gleichgesinnter‘ zu beobachten. Wie sie vor lauter Langeweile ein Bier nach dem anderen in sich hineinschüttete. Dann wurde gesungen, gegrölt und schließlich geschlafen. Ich glaube, ab diesem Zeitpunkt war mir der Backpacker an und für sich ziemlich peinlich. Der nächste Bootsfahrttag war deutlich entspannter und diesmal mit Sitzplatz, sodass wir auch aus dem Fenster nach draußen schauen und das Treiben auf und am Mekong verfolgen konnten.
Der erste Kontakt mit Laoten war uns nicht gerade sympathisch. Im Nachhinein kann ich es aber gut verstehen, dass sogar die liebenswürdigen Laoten von diesen Menschenhorden, die täglich von A nach B kutschiert wurden, völlig entnervt waren und dementsprechend leicht gereizt. Auch in Luang Phrabang und Vang Vieng, zwei Touristen-Hochburgen von Laos, begegneten wir daher weniger tiefenentspannte Laoten. Man spürte, wie der gemeine Tourist sehr dazu beigetrug, dass sich bei den lieben Laoten auch schon mal Wut anbahnte, wenn man sie nur lange genug ärgerte.
Thakhek
Ganz anders die Stimmung dagegen in Thakhek. Am 19.11.2010, exakt an Ulis 37. Geburtstag, kamen wir in dem am Mekong gelegenen, verschlafenen Städtchen an. Trotz Verwaltungs-Hauptstadt der Provinz Khammuan und trotz immerhin 70.000 Einwohnern, schenkte man diesem Ort nicht so wirklich Beachtung; der Tourismus hatte hier 2010 noch keine wesentlichen Spuren hinterlassen. Thakhek war für den normalen Backpacker eher nur ein Durchfahrtsort von der nordwestlichen Hauptstadt Vientiane nach Pakse im südlichen Laos. Bestenfalls nisteten sich die Reisenden für eine Nacht in einem Gasthaus ein, mieteten am nächsten Tag ein Moped und fuhren damit drei Tage lang den sogenannten Loop. Dies war eine zirka fünfhundert Kilometer lange Rundfahrt durch wundervolle Karstlandschaft, an dem neuen Stausee und zahlreichen kleinen Örtchen vorbei. Höhepunkt dieser Mopedtour war der Besuch der sieben Kilometer langen Höhle Kong Lor, die man mit einem kleinen Bötchen durchqueren konnte.
In Thakhek war die Lao-Welt noch in Ordnung, der Westler noch eine Seltenheit. Hier merkte man noch, was den Laoten ausmachte: Gelassenheit, Lebensfreude, nicht alles so ernst nehmen. Und diesem Ruf machten die meisten Laoten wahrlich alle Ehre, zumindest in Thakhek. Die Menschen strahlten eine Ruhe und Gelassenheit aus, waren immer unheimlich freundlich und hilfsbereit und hatten meist ein Lächeln im Gesicht. Ein Land bzw. eine Stadt zum Wohlfühlen.
Für den kraxelnden Backpacker war Thakhek – seitdem Volker Schöffl, ein unter Kletterern sehr bekannter Chirurg und Sportmediziner aus Bamberg, im Januar 2010 mit einer Truppe von siebzehn Leuten fünfzig Kletterrouten eingebohrt hatte – weit mehr als nur ein Durchfahrtsort. Dank Klettermagazinen und Internet sprach es sich ziemlich schnell herum, dass nur zwölf Kilometer von dem beschaulichen Ort entfernt ein neues Klettergebiet entstanden war. Und so kam es, dass sich neben uns beiden noch ein paar weitere Kletterer in dem Gasthaus ‚Travel Lodge’ für mehrere Tage einquartierten. Für die Mitarbeiter eine völlig neue Situation, dass Gäste länger als nur zwei Tage blieben. Ebenso für den Mopedverleiher Mr. Ku, der direkt neben der Travel Lodge sein Geschäft hatte. Mr. Ku, ein für einen Laoten relativ großer, schlanker Mann, zirka Ende dreißig, war immer am Lächeln und hatte seine Hände stets vor dem Bauch gefaltet. Seine gesamte Haltung und Mimik drückte Bescheidenheit, ja fast schon Demut aus. Mit Hingabe führte er seinen kleinen Laden mit einem Fuhrpark von rund zwanzig Mopeds. Engelsgeduldig erklärte er seinen westlichen Kunden das Bedienen der meist runtergerockten Vehikel. Manches Mal konnten wir beobachten, wie er kompletten Neulingen auf der dreißig Meter langen Auffahrt von der Straße zu seinem Lädchen innerhalb von ein paar Minuten Motorrollerfahren beibrachte. Zumindest versuchte er es.
Er war ziemlich glücklich darüber, dass er nun auch Mopeds verleihen konnte, die nicht auf dem Loop verheizt wurden, sondern nur für die völlig harmlosen zwölf Kilometer bis zum Klettergebiet hinhalten mussten.
Allein schon der Weg zum Kletterspot war atemberaubend. Sobald wir die Stadt hinter uns gelassen hatten, eröffnete sich uns ein traumhafter Blick auf die Karstlandschaft mit ihren sägezahnartigen, in der Morgensonne schimmernden Bergen. Zumindest aus Sicht eines Kölners würden wir diese als Berge bezeichnen. Der Tiroler würde wohl eher von Hügeln sprechen. Wir fuhren vorbei an kleinen Bambushütten, Schweinen, Kühen, Hühnern und Ziegen. Vor Ort konnten wir bis zu den Routen vorfahren – wie paradiesisch für den lauf-faulen Sportkletterer!
So verbrachten wir also ein paar wunderbare Tage in Thakhek – früh aufstehen und frühstücken, ab zum Klettergebiet, klettern, klettern, klettern, abends todmüde wiederkommen, zu Abend essen, schlafen – was will man mehr? – und schleichend kamen dabei immer öfter wieder diese Gedanken hoch, vielleicht irgendwann mal irgendetwas irgendwie mit Klettern zu machen. Wir inspizierten die Gegend rund um die schon eingebohrten Kletterrouten also etwas genauer. Gab es noch Potenzial für weitere Routen? Ja, ohne Ende! Gab es Wasser in der Nähe? Ja, ein Fluss war quasi direkt um die Ecke. Gab es ein lauschiges Plätzchen für ein paar Bambushütten? Na klar, aber so was von lauschig – und sogar etwas abgelegen von der großen Straße, umgeben von Felsen. Und am Ende dieses Tals befand sich ein kleiner Wald.
Wir wägten ab: Das Gebiet war zwölf Kilometer von Thakhek entfernt, also weit genug, dass die tägliche Anfahrt mit dem Moped nervte. Potentielle Gäste würden sicherlich lieber hier, direkt am Fels wohnen, anstatt in Thakhek. Aber wiederum nah genug, um schnellen Anschluss zu Lebensmitteln, Krankenhaus, Zivilisation zu genießen. Ganz wichtig erschien uns auch die direkte Nähe zu Thailand, wo es Dinge zu kaufen gab, die man in Laos nicht bekam und das – in medizinischer Hinsicht – Laos um Jahre voraus war. Alle uns wichtigen Bedingungen wurden als ‚genial’ eingestuft. Während wir uns noch ein wenig umschauten, fingen wir ernsthaft an zu grübeln.
Gedankenversunken gingen wir weiter. Der Weg führte uns durch den kleinen Wald, und plötzlich standen wir vor besagtem Fluss. Nicht breit, vielleicht acht Meter, gesäumt von Bäumen, Büschen und Felsen. Der kam ja wie gerufen! Eine Abkühlung war bitter nötig, so verschwitzt wie wir waren. Weiter rechts kamen wir über ein kleines Stück Sandstrand ins herrlich klare Wasser. Es war so warm, dass wir einfach mit unseren Klamotten hineinsprangen. So wurden Shirt und Hose gleich mit sauber.
Die Nachmittagssonne lugte von der Seite so schön durch ein paar Baumkronen, dass das Wasser förmlich glitzerte. Der Moment wäre auch so schon perfekt gewesen, doch es wurde noch besser, als wir entdeckten, dass der Fluss, in dem wir badeten, durch eine Höhle führte! Die Vorstellung, mitten in einem Klettergebiet zu leben inklusive einer eigenen Höhle mit Fluss, war einfach grandios. Quasi das I-Tüpfelchen, das uns noch fehlte. Ich glaube, dies war der Zeitpunkt, an dem wir uns insgeheim entschieden hatten, in dieses Abenteuer einzusteigen.
Also nochmal zurück zu unseren Gedanken ‚vielleicht irgendwann mal, irgendetwas, irgendwie mit Klettern zu machen‘…
Wieso nur ‚vielleicht‘ und nicht ‚ganz bestimmt‘? Und warum nur ‚irgendwann‘ und nicht ‚recht bald‘? Aus dem ‚Irgendetwas‘ wurde ‚so was wie ein Klettercamp‘. Nur das ‚Irgendwie‘ bereitete uns noch arges Kopfzerbrechen.
Wo fangen wir nur an? Wo müssen wir hin? Wen müssen wir fragen?
Zunächst blieb uns nichts anderes übrig, als zurück zur Travel Lodge zu fahren. Wir hatten Glück, dass die Besitzerin Mrs. Pok grad zu Besuch war. Eine kleine, resolute Geschäftsfrau ungefähr gleichen Alters wie wir. Normalerweise wohnte sie mit ihrem Mann und Kind in Frankreich und war nur selten in ihrem Gasthaus anzutreffen. Mrs. Pok war die einzige Laotin, die wir kannten, die ziemlich gut Englisch sprach und somit unsere erste Anlaufstelle, um von unserer Idee zu erzählen – in der Annahme, dass sie uns die ‚Flausen’ direkt aus dem Kopf schlagen würde. Aber im Gegenteil: Auf unsere Frage, wem denn wohl das Land rund um das Klettergebiet gehöre, forderte sie uns direkt auf, mit ihr dorthin zu fahren. Sie wollte sehen, welches Stückchen Erde wir genau meinten, damit sie daraufhin ihre Freundin, die viele Kontakte in Thakhek hatte, damit beauftragen konnte, nach dem Landbesitzer zu fahnden. Sie lud uns also in ihren dicken Pick-up und fuhr mit uns im Rausch der Geschwindigkeit mit zirka 40 km/h zu unserem Wunschland. Dieses Geschleiche war uns ganz recht, denn Mrs. Pok konnte aufgrund ihrer geringen Größe kaum übers Lenkrad schauen.
Noch am gleichen Abend hatte ihre Freundin nicht nur den Namen parat, sondern auch gleich ein Treffen mit uns und dem Landbesitzer Mr. Keo für den nächsten Tag um zehn Uhr morgens vereinbart. Vor Ort am Klettergebiet. Hä? Ja nee klar. Ach so…oh nein. Das war jetzt aber plötzlich…soweit waren wir doch gedanklich noch gar nicht, direkt einen Termin zu machen. Aber ja, ist doch eigentlich eine logische Konsequenz, dass man dann auch mit dem Herrn sprechen sollte. Wir brauchten ‚nur’ noch einen Übersetzer. Mrs. Pok hatte leider keine Zeit, und so hatte sie auf die Schnelle Mr. Ku, den Mopedverleiher von nebenan, für diesen Auftrag rekrutiert. Er wurde also von Mrs. Pok ein wenig vorbereitet und von unserer Idee – ein paar Hütten aufzustellen und so weiter – unterrichtet.
Abends setzten wir uns an den alten Computer der Travel Lodge und sendeten an Volker Schöffl eine E-Mail, um zu fragen, ob er irgendetwas im Sinn hatte mit dem Klettergebiet, wo seine Freunde und er Anfang 2010 Routen eingebohrt hatten – schließlich wollten wir ihm nichts vorwegnehmen – und erzählten von unserer Idee. Prompt kam schon am selben Abend die Antwort, ‚nee, macht ihr mal’. Die Routen hätte er unter anderem aus dem Grund eingebohrt, da er ja einmal jährlich für 2-3 Wochen nach Laos kommt, um im hiesigen Krankenhaus zu helfen. Und da will der Kletterdoktor natürlich auch an den Felsen. Er riet uns, uns an Green Discovery Laos zu wenden. Der Besitzer Inthy sei ein langjähriger Freund und wir könnten ihm zu 150% vertrauen. Wow! So eine Reputation ist natürlich goldwert. Wir machten uns also auf der alten Möhre (der Computer), die immer wieder abstürzte, schlau: Green Discovery Laos (GDL) ist ein Adventure-Travel- und Eco-Tourism-Anbieter, der sich Umweltfreundlichkeit, Nachhaltigkeit, faire Arbeitsbedingungen und Einbeziehung der lokalen Bevölkerung auf die Fahnen geschrieben hat. Das hört sich doch schon mal sehr fortschrittlich und sympathisch an. Nach einem nochmaligen Neustart von PC und Router sendeten wir der Firma dann auch direkt eine Anfrage über das Kontaktformular ‚haben von Volker gehört, dass…möchten ein Camp für Kletterer eröffnen…ob GDL wüsste, an wen wir uns wenden sollten‘…sowas in der Art. Viel erwarteten wir nicht, aber man muss ja mal seine Fühler ausstrecken. Mehr konnten wir für heute nicht tun, außerdem guckten uns die anderen Gäste schon böse an, die auch endlich mal rein wollten ins WWW. Smart- und I-phones waren damals noch nicht allgegenwärtig, sodass das Gerangel um den Kasten recht groß war.
Schwer aufgeregt legten wir uns in unser Zimmer Nr. 8 mit dem überdimensionierten Badezimmer und der brettharten Matratze schlafen.
Die Landbesitzer
Am darauffolgenden Tag, es muss wohl der 22. November 2010 gewesen sein, ging´s also los. Mit Mr. Ku im Schlepptau machten Uli und ich uns auf zu Mr. Keo. Zu unserem Geschäftstermin. Wir trafen ihn und seine Frau Manivone in einer Bambushütte an.
Steckbrief Mr. Keo: Laote, Ende Fuffzig, sieht aber sehr spritzig aus im Gegensatz zu manch anderen Exemplaren seines Alters, schwarze Haare und braune Augen (wer hätte das gedacht), mittelgroß, schlank, sehr freundliches und offenes Gesicht. Hemd, lange Hose, offene Latschen.
Steckbrief Manivone: kleine rundliche Laotin mit so schmalen Lidern, dass man die Augen selbst kaum sah. Ihre langen gräulichen Haare zu einem strengen Dutt hochgesteckt. Sie ist vermutlich nicht viel älter als ihr Mann, könnte aber locker als seine Mutter durchgehen. Sie trug den laotischen traditionellen langen Wickelrock, ‚Sien’ genannt – mit scharfem ‚S’- und ein Blüschen. Ein wenig verhärmt guckte sie aus der Wäsche, als hätte sie in ihrem Leben nicht so viel zu lachen gehabt wie Mr. Keo, war aber dennoch überaus freundlich und herzlich.
„Sabaidiis” (= Hallo oder Guten Tag) wurden ausgetauscht. Die Männer gaben sich dabei die Hand, ich habe zum Gruß brav die Hände gefaltet. Soweit hatten wir unsere Lektion in Sachen laotische Gepflogenheiten schon gelernt.
Die Hütte war ganz einfach gebaut, auf ein Meter hohen Stelzen, ohne Wände, nur mit einem Geländer und einem Dach aus Wellblech. Das Häuschen war schon ziemlich abgewrackt. Die Schuhe wurden, wie in Südostasien üblich, draußen gelassen. Auf dem Boden der Hütte lag eine bunte Plastikmatte, auf der wir uns alle niederließen.
Die Vorstellungsrunde ging recht schnell: Uli zeigte auf sich und sagte: „Uli.“ Ich entsprechend das gleiche – „Tanja.” Grins. Und besser nochmal ein “Sabaidii” hinterhergeschoben, nur um etwas zu sagen. Mann kam ich mir blöd vor!
Mrs. Manivone bot uns warmes Bier auf Eis an, yummy.
Drei Gründe, warum wir dies eigentlich hätten abschlagen müssen: es war zehn Uhr morgens (zumindest für mich ein Grund), das Bier war warm, das Eis machte das Bier wässrig und entzieht die Kohlensäure.
Natürlich nahmen wir es trotzdem an.
Aus Mangel an Laotischkenntnissen blieb uns erstmal nichts, als zu trinken und ein wenig doof aus der Wäsche zu gucken. Wir hatten natürlich unglaublich viele Fragen. Uli wendete sich also an Mr. Ku:
„Could you please ask him if we could rent his land?” Fragendes Gesicht im Mopedverleiher. Es war ihm sichtlich unangenehm, dass er die Frage nicht verstand.
Also nochmal: „Rent land, ok?”
Das Wort ‚rent‘ kannte Mr. Ku zum Glück, schließlich führte er einen motorbike rental. Und ‚ok‘ schien sich international etabliert zu haben.
„Aaaaah”, machte Mr. Ku und sein Dauerlächeln wurde noch breiter. Er übersetzte die Frage also für die Landbesitzer – und redete und redete. Mr. Keo antwortete etwas – und redete und redete.
Oh, das dauert zu lange, da scheint es doch einige Probleme zu geben, denken Uli und ich. Nach zirka zehn Minuten drehte sich Mr. Ku wieder zu uns:
„Yes.” Dazu breites herzliches Lächeln.
Oh ha, damit hatten wir nun nicht gerechnet. Aber wir waren ja gut vorbereitet, also zack, die nächste Frage:
„Can we install electricity in the area?” Mr. Ku: fragendes Gesicht (aber weiterhin lächelnd – wie macht er das nur beides auf einmal?).
Also einfacher: „Electricity over there ok?”, und währenddessen aufs Land zeigend. Das gleiche Spiel wie eben…Übersetzung, endloses Gerede. Uli und ich folgten hoffnungslos dem Gespräch, versuchten aus den Gesichtern von Ku und Keo zu lesen. Nee, geht bestimmt nicht, wenn man so lange darüber quatschen muss…ohne Strom können wir das Ganze vergessen.
Komm Uli, wir gehen nach Hause, war `ne blöde Idee, das mit dem Camp. Nach zig Minuten wieder Mr. Ku: „Yes.”
Huch, auch das kam eher überraschend. Also gut, dann machen wir weiter. „Telephone ok?“ Diesmal nur kurzes Gerede, dann „Yes.”
„Internet?” – Mr. Ku und Keo sind kurz stumm, dann ein Nicken von Keo.
Ha, erwischt, er hat keine Ahnung wovon wir sprechen, wollte dies aber nicht zugeben. Den Punkt Internet mussten wir also erstmal streichen. Noch ein Schluck warmes, wässriges Bier, dann konnten wir die zweite Vokabel raushauen, die wir schon gelernt hatten: „Khop chai” (= danke), um verständlich zu machen, dass wir durch sind mit unserem Fragen-Katalog, in der Hoffnung, dass die Laoten-Fraktion auch tatsächlich verstanden hatte, was wir von ihnen wollten.
Nach weiteren gegenseitigen Khop chais (Männlein wie Weiblein mit gefalteten Händen) und Bye byes unsererseits verließen wir die Hütte.
Ein kleiner Abstecher:
‚Tschüss‘ haben wir einfach immer weiter auf Englisch gesagt, bis zum Schluss. Es gibt zwar das Laotische Wort ‚la gorn‘, aber Laoten sagen meistens gar nicht Tschüss. Ich kann das nicht, gehen, ohne Tschüss zu sagen, es steckt aufgrund meiner westlichen Sozialisierung zu tief drin. Versuch mal, dich von deinem Gesprächspartner ohne Verabschiedung zu entfernen. Es schmerzt regelrecht. Zumindest hinterlässt es ein Unbehagen. Daher blieben wir bei unserem gnadenlosen ‚Bye bye‘ – aus Selbstschutz.
Wie wir noch rausfinden konnten, würde das Landbesitzerpaar am nächsten Nachmittag in die Travel Lodge kommen für ein Treffen mit Mrs. Pok, deren Englisch-Wortschatz ein wenig mehr bot als der ihres Herrn Nachbarn.
Wie beflügelt stiegen Mr. Ku und Uli und ich auf unsere Mopeds, düsten zurück zu unserem Gasthaus und verabschiedeten uns mit noch weiteren Khop chais und Thank yous von unserem Dolmetscher.
Wieder zu zweit, gaben wir uns voller Euphorie ein ‚high five’. Na, das war doch schon mal ein voller Erfolg! Und nu’ – was machen wir mit diesen Erkenntnissen?
Den nächsten Morgen (23.11.2010) nutzten wir, um das Klettergebiet noch ein weiteres Mal gründlich unter die Lupe zu nehmen, um für unseren nächsten Geschäftstermin gewappnet zu sein.
Erstens: Wo genau möchten wir uns niederlassen? Zweitens: Wie viel Platz benötigen wir? Drittens: Wie viel Potenzial für weitere Kletterrouten bietet das Areal überhaupt?
Punkt 1 und 2 hakten wir relativ schnell ab, daher zu Punkt 3: Wir mussten die Gegend um das schon erschlossene Klettergebiet nach Felsen absuchen. Etwas mulmig war uns schon, als wir in den Wald dackelten, schließlich kannten wir uns in Tier- und Pflanzenwelt kein bisschen aus, wussten nicht, ob die Laotischen Skorpione, Spinnen und Schlangen angriffslustig und giftig waren. Ich könnte jetzt eine Wahnsinns-Story daraus machen, wie wagemutig, tollkühn, ja heldenhaft wir waren, wie wir uns, mit einer Machete bewaffnet, die wir uns zuvor in Thakhek besorgt hatten, durch den wilden Dschungel schlugen. Dass wir manchmal so tief im Dickicht steckten, dass wir nicht mal mehr den Himmel sehen konnten. Und uns den Weg am Felsen entlang bahnten, um die Orientierung nicht zu verlieren…Aber um ehrlich zu sein war die Aktion einfach nur völlig bescheuert. Verschwitzt von der schwülen Mittagshitze, verdreckt und verklebt von Spinnenweben, zerkratzt von Dornbüschen und zerstochen von Moskitos beendeten wir nach Stunden unsere Runde durch das Tal. Wir waren fix und fertig. Entdeckt hatten wir nur ein weiteres Gebiet (den heutigen Sektor ‚Climbers Home‘) – aber immerhin. Bei den anderen Wänden, die dann und wann auf unserer Tour sichtbar wurden, konnten wir vielleicht zwei Meter nach oben schauen, bevor der Rest des hoffnungsvollen Stück Felsens hinter Büschen, Ranken und Wurzeln verschwand. Gekrönt wurde unsere Wilder-Osten-Tour damit, dass Uli einen fetten Ausschlag bekommen hatte und sein gesamter Oberkörper übersäht war mit roten, juckenden Pusteln. Mich dagegen hatte irgendein Vieh in die linke Hand gestochen oder gebissen. Zwei Tage lang war meine Hand gekrümmt als hätte ich eine Spastik und außerdem hatte ich höllische Schmerzen. Super, zwei Städter entdecken die Natur.
Bepustelt und mit Krampfhand sind wir also nachmittags zu unserem zweiten Treffen mit den Landlords Keo und Manivone erschienen. Herzliche ‚Saibaidiis‘ wurden ausgetauscht. Die Gasthausbesitzerin Mrs. Pok war diesmal ja auch anwesend. Wir trafen uns alle auf der Terrasse der Travel Lodge, die gleichzeitig als Aufenthaltsort und Restaurant fungierte. Zunächst musste Ulis grausamer Juckreiz gestoppt werden. Die Laoten waren sich einig, dass eine Raupe, die ihre Haare auf der Haut verbreitet hat, wohl der Übeltäter war. Mrs. Pok hat daraufhin Uli komplett mit Babypuder eingestaubt. Ein herrliches Bild.
Zu meiner Hand konnte keiner etwas sagen. Ich vermute – denn den Schmerz habe ich in den darauffolgenden Jahren öfter erfahren dürfen – dass ein kleiner Skorpion sich auf mir ausgetobt hatte. Dann widmeten wir uns dem Geschäftlichen.
Das Treffen war weitgehend überflüssig, es wurde hauptsächlich nur noch einmal wiederholt, was wir am Vortag schon erfahren hatten. Außerdem machten Schneekönig Uli und ich noch einen zusätzlichen Termin mit den Landbesitzern am Klettergebiet aus, um unser Wunschareal abzustecken. In zwei Tagen sollten wir noch einmal dorthin fahren. Außerdem bekamen wir von Mrs. Pok noch den durchaus wichtigen Hinweis, dass wir uns mit unserem Vorhaben an das Ministry of foreign affairs (Abkürzung: MOFA. Auf Deutsch: Das Amt für Ausländerangelegenheiten) in Thakhek wenden sollten. Dann war dieses kurze Treffen beendet, khop chai und tschüss.
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Gegenwart (Frankreich, Malemort du Comtat)
Immer noch Campingplatz Font Neuve, 02. Juli 2019:
Bronchitis und die Hitzewelle nehmen leider kein Ende. Immerhin sind wir einmal nach Venasque zum Klettergebiet gefahren, sodass wenigstens Uli ein paar Routen abspulen konnte, während ich ihn gesichert habe. Ansonsten poolen wir nur rum: lesen, schlafen, kurz in den Pool hüpfen, dann wieder von vorne.
Wäre eigentlich für ein paar Tage ein nettes und für uns höchst seltenes Programm, wären nicht meine Psycho-Knackse wiedergekehrt: Ein andauernder Schwindel, der mich seit vier Jahren begleitet, und ein dumpfes Ohr (das Gefühl ein Pfropfen verklebt mein linkes Ohr), der im März 2015 den Startschuss gab für den Schwindel. Ich fühle mich, als hätte ich die ganze Nacht durchgesoffen und wäre immer noch nicht nüchtern. Dabei ging es mir, als wir vor vier Wochen nach Deutschland zurückkehrten, endlich wieder gut! Der Schwindel war fast nicht mehr zu spüren. Und nun dieser Rückschlag. Ich bin ein wenig am Verzweifeln, die ständige Kopfkreiserei macht mich wahnsinnig! Aber zunächst mal weiter im Text:
Büro-Hopping
Am nächsten Tag schon, also am 24.11., machten wir in Thakhek dieses Amt mit dem wichtigen Namen ausfindig. Da es direkt an der Hauptstraße lag, die vom Klettergebiet nach Thakhek und durch Thakhek bis zum Mekong führt, war es recht leicht zu finden. Damals hatten wir noch keine Smartphones (Uli übrigens bis heute nicht), sodass man noch auf Papier gekritzelte Wegbeschreibungen angewiesen war.
Zögerlich fuhren wir durch die Einfahrt auf das dunkle, ziemlich heruntergekommene Backsteinhaus zu und stellten unser Gefährt zu anderen Mopeds neben dem Eingang ab. Bevor wir uns fragen konnten, wer denn zuerst von uns beiden den Laden betritt (ja, wie kleine Kinder), kam auch schon eine freundlich blickende Frau mittleren Alters aus dem Gebäude und sagte oder fragte etwas auf Laotisch. Vermutlich: „Was wollt ihr hier?“ Um nicht mit der Tür ins Haus zu fallen, sagte Uli vage auf Englisch, dass wir ein paar Fragen hätten. Offensichtlich verstand sie, denn sie bat uns tatsächlich rein. Wir sollten doch noch kurz warten, und fünf Minuten später saßen wir im ersten Stock am rustikalen Holzschreibtisch dem rundlichen Boss des Ladens gegenüber. Die freundliche Dame reichte uns Tee in Minigläschen und verschwand so leise wie sie gekommen war. Na, das fluppt ja schon mal ganz gut, immerhin nahm man sich Zeit für uns, obwohl wir noch mit keinem Wort erwähnt hatten, was wir überhaupt wollten. Also los, nun raus mit der Sprache…aber mit welcher Sprache? Als der Boss realisierte, dass wir außer Sabaidii, Khop chai und Pin pah (= klettern) kein Wort Laotisch konnten, zitierte er seine Vorzimmerdame wieder herein. Wir hauten ihr ein paar Worte wie „want to open guesthouse”, „bungalows” und „climbing” um die Ohren, und auch diesmal schien sie zu verstehen und übersetzte für ihren Chef. Der schüttelte ungläubig mit dem Kopf als er „pin pah” hörte. Hieß das nun, dass er Klettern nicht guthieß oder dass er gar nichts von dem Klettergebiet und dem Wahnsinns-Kletterpotenzial in seiner Provinz wusste? Wir gingen mal von Letzterem aus, und so sagte Uli:
„Yes, there is climbing, 12 km away, behind the cave Xiangliab.” Übersetzung, dann wieder Kopfschütteln. Ich war froh, dass es wenigstens ein paar elementare kulturelle Übereinstimmungen zwischen Deutschland und Laos gab, nämlich, dass Kopfschütteln „Nein” heißt und Nicken ist gleich „Ja”. Also packte ich unsere Kamera aus, scrollte zurück zu unseren Kletterfotos und reichte meinem Gegenüber das Gerät. Er wiederum packte seine Brille aus, setzte sie langsam auf die platte Nase, lehnte sich gemütlich zurück und betrachtete mit ernster Miene die Bilder. Dann über den Rand der Brille uns. Dann wieder die Bilder. Stille, für ein paar Momente hielten Uli und ich die Luft an. Dann zeigte der Boss auf das Bild auf der Kamera, auf dem Uli gerade beim Klettern zu sehen war, dann auf Uli.
„You?” Na, geht doch mit dem Englisch! Die Frage kam sehr ernst, als hätten wir etwas Verbotenes getan. Oh je, was machen wir hier? Schaufeln unser eigenes Grab oder werden wegen unrechtmäßigen Verhaltens des Landes verwiesen? Lass uns besser schnell verschwinden! Uli nickte. Mir wurde heiß und kalt vor Anspannung. Der Boss drehte die Hand, mit der er gerade noch auf Uli gezeigt hat und hob den Daumen. „Good good!”, sagte er dazu bewundernd und mit breitem Lachen. Ich atmete wieder. Der dicke Mann schaute sich noch ein paar weitere unserer Urlaubsfotos an und war sichtlich amüsiert. Prima, das Eis war gebrochen. Er vermittelte uns, dass er nichts für uns tun könne, aber wir sollten doch mal das Amt für Tourismus aufsuchen.
Also haben wir uns herzlich bedankt und aufgemacht – geradewegs zum Tourismusamt, das nur drei Fahrminuten entfernt lag. Hier verlief es ähnlich – nach ein paar Minuten saßen wir im ersten Stock einem dicken Mann gegenüber und man reichte uns ein kleines Gläschen Tee. Wie wir später rausfanden, haben wir auch hier direkt mit dem Boss Mr. Panyaa persönlich gesprochen. Leider gab´s hier keine Vorzimmerdame zur Übersetzung, wir konnten uns überhaupt nicht verständigen. Nach einem kurzen Telefonanruf von Mr. Panyaa und ein paar Minuten später betrat ein smarter, junge Laote mit breitem Lächeln das Zimmer und stellte sich als Mr. Ice, English teacher, vor. Woher der Tourismus-Chef den so schnell aus dem Ärmel gezaubert hatte, war uns schleierhaft, aber natürlich sehr recht, diese Unterstützung zu erhalten. Mr. Ice konnte wahrlich ziemlich gut Englisch, sodass er unser Anliegen sofort verstand. Hier hatte man immerhin schon davon gehört, dass es weiter draußen ein Klettergebiet gibt. Nach einigem Hin- und Her auf Laotisch wurden uns die Optionen offenbart:
Entweder wir versuchen es auf eigene Faust, also ohne laotischen Partner. Als Westler würde es aber Jahre dauern, allein die Geschäftsgenehmigung zu erhalten.
Zweite Alternative: Wir könnten zusammen mit dem staatlichen Tourismusamt ein Joint Venture gründen. Aha.
Und wir sollten doch mal zum Ministry of Planning and Investment gehen, wir hatten aber nicht verstanden, warum. Wir verabschiedeten uns recht schnell, da wir hier nicht weiterkamen. Mit der Regierung würden wir sicherlich nicht zusammenarbeiten wollen, das war uns alles zu suspekt.
Nächste Station bei unserem Büro-Hopping: Das Ministry of Planning and Investment, glücklicherweise nur ein paar Hundert Meter weiter auf der gleichen Straße gelegen, schräg gegenüber vom Fußballplatz. Langsam bekamen wir Routine beim Abklappern der Ministerien und Ämter, dachten wir. Hier aber war alles anders. Erster Stock auch, ja, aber kein dicker Mann, kein Tee. Dafür Großraumbüro, in dem wir von zirka zwölf erstaunten braunen Augenpaaren angeglotzt wurden. Wir wandten uns an den nächstbesten, „äh, we want to open a guesthouse”…keine Reaktion. „Äh, climbing”…keine Reaktion. Wie ferngesteuert machten wir beide daraufhin Luftkletterbewegungen. Die Mitarbeiter grinsten. Uns gingen die Ideen aus, wie wir unser Anliegen sinnvoll darlegen sollten, sagten schnell khop chai bye bye und machten uns davon. Mann, war das ein peinlicher Auftritt.
Erschöpft von all den Gesprächen sind wir zum Mittagessen im zentral gelegenen, nur hundert Meter vom Mekong entfernten Inthira Hotel, eingekehrt. Wie wir schon bei Internetrecherchen herausgefunden hatten, gehört auch das Hotel besagtem Mr. Inthy höchstpersönlich, und die Thakheker Filiale von Green Discovery hat ebenfalls dort ihren Sitz. Sehr praktisch, so konnten wir nämlich gleichzeitig mal schauen, ob wir dort persönlich Kontakt aufnehmen könnten. Tatsächlich war ein Mitarbeiter von GDL anwesend: Buang (Name geändert). Ein netter, sympathischer Kerl, der – welch Glück – sehr gut Englisch sprach. Leider war er gerade auf dem Sprung zu einer Kajaktour, sodass wir mehr im Vorbeigehen von unseren Plänen erzählten und dass wir diesbezüglich auch schon die Green Discovery Hauptfiliale kontaktiert hatten. Viel konnte Buang nun nicht für uns tun, und so blieb es bei einem ‚ja, er horcht mal nach’. Eher gingen wir aber davon aus, dass wir, noch während wir aus dem Hotel traten, wieder in Vergessenheit gerieten.
Kurzes Resumée: Wir hatten vier Anlaufstellen in Thakhek aufgescheucht, ein Angebot auf Zusammenarbeit mit einer staatlichen Behörde abgelehnt, uns zum Narren gemacht und den ganzen Vormittag verdaddelt. Gut, wir hatten reichlich Tee für lau. Und immerhin die Auskunft, dass grundsätzlich dem Klettertourismus wohl nichts im Wege stünde.
Ausmessen
Um gut vorbereitet zu sein für das Vermessungstreffen mit den Landbesitzern, hatten wir nachmittags noch so einiges zu erledigen. Unterwegs besorgten wir uns Schreibblock, Bleistift, Radiergummi und Lineal, und zurück in unserem Gasthaus machte Uli Zeichnungen von Restaurant und Bungalows. Die Maße der Gäste-Bungalows konnten wir uns noch einigermaßen in Gedanken vorstellen, aber Restaurantbereich, Theke und Küche waren ein großes Fragezeichen. Um sicherzugehen, dass die Proportionen passen, schnappten wir uns eine 1-Meter-Bandschlinge (ein Seilstück, das Kletterer benötigen) und suchten etwas außerhalb von Thakhek ein freies Feld, um die Maße 1:1 am Boden aufzureißen. Mit Zweigen markierten wir Wände, Balkon, Theke, Klo und gingen die Wege zwischen den imaginären Zimmern ab. Hier noch ein Meter mehr, da etwas weniger – passt.
Zwischendurch erschienen ein paar halbstarke Laoten, die sich vermutlich fragten, was wir hier tun. Zurecht, denn wir taten ja komische Dinge auf diesem Privatgelände. Sie mussten doch denken, dass wir uns dieses Stück Land aneignen und darauf niederlassen wollten. Aber wir nix reden Laotisch, und sie nix verstehen Englisch, also war es schwerlich möglich, Rede und Antwort zu stehen für unser Tun. Uli aber hatte wahrlich die Absicht, ihnen alles zu erklären, und hielt den drei Jungs unsere Zeichnungen des Restaurants unter die Nase. „Nicht doch, du machst es nur schlimmer”, rief ich ihm noch vom zukünftigen Sitz-Podest im Restaurant in die imaginäre Küche zu, wo die Laoten unwissend mitten auf den mit Zweigen markierten Kühlschränken standen. Uli gab sein bestes, aber die Aufregung auf laotischer Seite stieg nur weiter an, je mehr er auf sie einredete. Da wir eh fertig waren mit unserer Grobeinteilung, machten wir uns schleunigst davon, drei Laoten mit fragenden Gesichtern zurücklassend.
Am 25.11.2010 rollten wir wieder zum Klettergebiet, um zehn Uhr hatten wir ja den Termin mit den Landbesitzern. Zu Hilfe kam diesmal Mr. Keos Neffe Wang, der aber auch nicht mehr als drei Worte Englisch rausbrachte. Wir selbst hatten in den letzten Tagen versucht, einige laotische Wörter aus unserem Stefan Loose-Reiseführer zu lernen, aber wir mussten feststellen, dass wir die Lautschrift völlig fehlinterpretierten. Selbst der einfache Satz ‚Koi suu Tanja’ (= ‚Ich heiße Tanja’) wurde nicht verstanden. Wir mussten offensichtlich noch etwas an unserer Aussprache feilen. Übrigens: ‚Tan’ heißt Kohle und ‘Jaa’ bedeutet Gras. Zusammen – ‘Tanja’ – muss sich natürlich bescheuert angehört haben. Nachdem wir das mit dem Vorstellen letztendlich irgendwie anders geregelt hatten, kamen wir direkt zur Sache. Mr. Keo schnappte sich ein 5-Meter-Maßband und seine Frau Manivone. Wir hatten damals eigentlich das Stück Land, auf dem heute Camp 2 steht, ins Auge gefasst, da wir nicht damit rechneten, dass das Gebiet, welches wir schließlich wählten, zu verpachten wäre. Das Stück Land unserer Wahl zu besagtem Zeitpunkt befand sich zirka zweihundert Meter von der Straße entfernt. Man erreichte es über einen Feldweg, an zwei viereckigen Teichen rechts und links des Weges entlang, links vorbei an der Bambushütte, in der wir vor drei Tagen unsere erste Besprechung hatten, dann wieder an zwei zu beiden Seiten liegenden Wasserbecken. Später haben wir erfahren, dass diese Teiche dadurch entstanden sind, da mit der Erde des Aushubs die geteerte Schnellstraße gebaut wurde. Aufgrund der alljährlichen Überflutung muss die Straße recht hoch liegen, somit benötigte man für den Bau eine Menge Erde.
Linker Hand lag das großflächige Land, gesäumt von zwei riesigen schattenspendenden Laubbäumen, genauer gesagt Myrobalanen. Im Hintergrund verlief der Fluss.
Uli und ich gingen die Eckpunkte ab, wir dachten ein 50 x 50 Meter großes Grundstück sollte genügen, wollten ja aufgrund Geldmangels erstmal klein anfangen. Keo und Manivone nahmen Maß, der Neffe steckte die Ecken mit Stöckchen ab. Wir vereinbarten, dass Wang uns in den nächsten Tagen per E-Mail Keos Angebot zukommen ließe. Hört hört, per E-Mail – so fortschrittlich! Ich übergab dem Neffen also so leserlich wie möglich und in Druckbuchstaben geschrieben meine E-Mailadresse, dann verabschiedeten wir uns, alle glücklich und zufrieden.
Einkaufen
Zurück in Thakhek schlenderten wir über die Haupteinkaufsstraße für ‚Baumärkte‘ und ‚Möbelhäuser‘, die direkt an unserem Gasthaus entlangführt, um uns schon mal nach Preisen von Einrichtungsgegenständen für unser zukünftiges Camp zu erkundigen. Gewappnet mit passenden Vokabeln wie den Tausender-Zahlen (denn 1 Euro sind rund 10.000 Laotische Kip) und z.B. „Aan ni tao dai? (für Kölner = Watt kost’ datt?), zogen wir von Laden zu Laden und erfragten so die Preise von Bettdecken, Kissen, Geschirr, Besteck, Mikrowellen, Kühlschränken. Braucht man ja für den Business-Plan. Was uns damals schon irritierte: Wir zeigten auf die ausgesuchte Ware und sagten unseren schlauen Satz: „Aan ni tao dai?” Es gab keinerlei Zweifel, welchen Gegenstand wir meinten. Dennoch fragte jeder der Verkäufer noch einmal nach: „Aan ni bo?” (= das da?) Hätte mein Laotisch ausgereicht, hätte ich am liebsten willkürlich auf etwas anderes gezeigt und gesagt „Nee, das da hinten!” Mann, klar meine ich das da, du Dämel! Bei unseren ersten Sprechversuchen führten wir dieses Phänomen noch darauf zurück, dass wir vielleicht nicht richtig verstanden wurden. Diese Nachfrage verfolgte uns aber acht Jahre lang, wurde sogar, als der jeweilige Verkäufer merkte, dass wir einigermaßen Laotisch können, gesteigert! Also so: „Ich hätte gerne diese Machete”, und zeigte dabei wohlweislich auf die Machete und mit dem Zeigefinger die Zahl 1 und sage „Nung” (= eins). Daraufhin kam immer erst das übliche „Aan ni bo?” (= das hier?) Jaha, richtig! Und zeigte nochmals auf die Machete. Dann der Zusatz: „Nung aan bo?” (= ein Stück?). Ja, auch richtig – wow! Und mein Zeigefinger für die Zahl 1 schnellte wieder in die Höhe. Da wir im Urlaubsmodus und somit nicht in Zeitnot waren, konnten wir uns noch darüber amüsieren.
Phou Hinboun Park
Um noch ein wenig mehr von der Landschaft zu sehen und um noch ein weiteres Klettergebiet kennen zu lernen, machten wir für die nächsten drei Nächte einen Ausflug zum Phou Hinboun Park. Wir besuchten dort die sehr beeindruckende 7 Kilometer lange Höhle Kong Lor, durch die uns ein Bootsmann in so etwas wie einer Nussschale durchschleuste. Die restlichen eineinhalb Tage nutzten wir, um das Klettergebiet Nam Hinboun zu testen. Dieses wurde 2006 von Französischen Kletterern erschlossen. Viel frequentiert wurde es wegen seiner abgelegenen Lage nicht, dementsprechend war es zugewachsen, dreckig und voller Spinnweben. Außerdem fehlte überall die erste Bohrhakenlasche, vermutlich geklaut von Laoten, die scharf waren auf das Metall – oder es war ihnen einfach langweilig. Die Kletterei war also nicht unbedingt ein Vergnügen. Am zweiten Klettertag waren wir etwas besser vorbereitet: Wir erwarben im nächsten Dorf eine Klobürste, mit der sich Uli als erster Vorsteiger den Weg bahnte. Ich als zweiter Vorsteiger hatte es leichter, die Routen waren dann schon befreit von den Spinnweben.
Die neuen Erkenntnisse – fehlende Einstiegsbohrhaken und dreckige Routen – notierten wir für unseren Kletterführer über Laos, den wir schon wohlweislich in Planung hatten.
Am 29.11. fuhren wir wieder nach Thakhek, wo wir einen Teil unseres Gepäcks gelassen hatten, um leichter zu reisen. Acht Stunden dauerte die 188 Kilometer lange Fahrt in dem Sammeltaxi, dem sogenannten Songthaeo. Acht Stunden lang eingequetscht zwischen Menschen und Hühnern. Davon hatte Uli fünf Stunden den Ellenbogen seines Nachbarn zwischen seinen Rippen kleben. Wunderbar, so wurde auch dieses Erlebnis unvergesslich für uns. Wir quartierten uns wieder in unserem Stammgasthaus Travel Lodge ein. Nun hatten wir noch ein paar Tage, bevor unser Flieger von Pakse nach Vietnam gehen würde. Also: erstmal wieder klettern, aber auch die Zeit nutzen, um Thakhek weiter auszukundschaften.
Der flinke Franzmann
In der Nähe des Mekongs, wo ein Platz mit einem ehemaligen Springbrunnen und einem drei Meter hohen Uhrenturm so etwas wie ein Zentrum markierte, gab es noch ein paar für uns interessante Geschäfte mit Bettzeug, Tupperware und anderem Kram. Tagsüber war hier nicht viel los, erst abends krochen die Menschen aus ihren Löchern und belebten die Straße am Mekong und besagten Platz mit Fressbuden, Shake-Ständen und Barbeque.
Während wir die Läden inspizierten, tauchte plötzlich Buang auf. Ihr erinnert euch? Der Mitarbeiter von Green Discovery, den wir ein paar Tage zuvor angesprochen hatten. Ganz aufgeregt erklärte er, dass er uns schon überall gesucht habe. Der Manager von Green Discovery, der in der Hauptstadt Vientiane, 300 Kilometer nordwestlich von Thakhek saß, mochte uns unbedingt sprechen, wir sollten ihn doch bitte anrufen. Wir folgten also Buang zu seinem Arbeitsplatz im Inthira Hotel, und Uli rief den Manager an. Vianney sein Name, ein Franzose. Es ging natürlich um unsere E-Mail-Anfrage. Ob wir nicht nach Vientiane kommen könnten, er würde uns gerne persönlich sprechen. Waaaaas? Kraaaaasss! Selbst Uli, der sonst kaum aus der Ruhe zu bringen ist, war offensichtlich aufgeregt.
„Äh, ja klar, äh, ich ruf dich gleich zurück, wir müssen dann nur noch ein wenig unsere Pläne ändern.“ Auf Englisch natürlich. Wir wägten nur kurz ab…in vier Tagen ging eigentlich unser Flug von Pakse (im Süden von Laos) nach Ho Chi Minh Stadt. Scheiß drauf, buchen wir um, wir müssen nach Vientiane! Mist, unser Visum lief ja in vier Tagen ab, wir mussten uns also schnell aufmachen. Ulis Rückruf: „Alles klar, übermorgen sind wir da.”
Und so fuhren wir zwei Tage später nach der schön-schrägen Zeit in Thakhek mit dem Bus morgens nach Vientiane, suchten uns im Zentrum ein Quartier und gingen dann schnurstracks zum Büro von Green Discovery, das nur zwei Straßen weiter lag.
In dem klimatisierten, länglichen Büro saßen ungefähr zehn Personen, alle in ihre Computer vertieft. Einige Westler befanden sich unter den Mitarbeitern, vermutlich Praktikanten. Wir fragten uns zu Vianney durch, der am anderen Ende ein eigenes Büro hatte, mit einer Glasscheibe getrennt zu seinen Mitarbeitern.
Freudig kam uns der relativ kleine, sehr schlanke Endvierziger entgegen. Er strahlte eine immense Größe und Energie aus. Der macht keine halben Sachen, das sah man direkt.
Nach kurzer Begrüßung bat er uns in den Besprechungsraum mit dem großen, ovalen Tisch, an dem locker ein Dutzend Leute Platz nehmen könnten. Die Glasfront gab Sicht auf das Großraumbüro, an der Wand hing eine übergroße Karte von Laos und eine Magnettafel. Nach den bisher lockeren Gesprächen im Schneidersitz und mit Bier auf Eis wirkte der Raum ganz schön businessmäßig. So saßen wir beide naseweisen Backpacker völlig eingeschüchtert dem kleinen, großen Manager gegenüber, um ihn von unserem herrlichen Traum vom Auswandern zu überzeugen. Während wir mit unserem grottig schlechten, seit der Schulzeit eingerosteten Englisch etwas von Hütten, Restaurant und Kletterern erzählten, kamen wir uns schon ziemlich naiv vor. Jetzt kommt doch sicherlich der Zeitpunkt, an dem uns jemand von unserer Wolke 7 wieder runterholte. Spätestens dann, wenn es um die Frage ginge, wie viel Eigenkapital wir denn hätten. Aber Vianney lehnte sich zurück und hörte uns entspannt und geduldig an. Als wir nichts mehr zu sagen hatten, beugte er sich vor, nahm noch einen Schluck Kaffee – und ratterte los.
Was folgte war ein Bombardement an Infos und Vorschlägen, denen wir mit großen, fragenden Augen versuchten zu folgen. Ich war völlig überfordert. Es kamen zusammen: Mein eingeschränktes Vokabular im Allgemeinen, ein eingeschränktes Vokabular in Business-Englisch im Besonderen. Mein nur halbwegs reichendes Verständnis fürs Geschäftliche – trotz FH-Diplom in Betriebswirtschaftslehre. Vianneys ausgeprägter französischer Akzent, sein überaus sportliches Sprechtempo und mein miserables Gehör (ich fand allerdings erst Jahre später heraus, dass ich doofe Ohren habe).
Unterm Strich verstanden wir aber dann doch das Wesentliche: Ja, er sei dabei, grundsätzlich stünde einer Zusammenarbeit nichts im Wege – falls Inthy, der Oberboss, auch zustimmen würde, was aber kein Problem darstellen sollte. Hä, echt jetzt? Und unsere limitierten Geldmittel? Und überhaupt: Du kennst uns doch gar nicht?
Zunächst die Geldangelegenheiten: Er beruhigte uns und erklärte, was uns an finanziellen Mitteln fehle, würde GDL einlegen. Entsprechend wären halt unsere Anteile. Schlimmstenfalls würden wir uns gar nicht finanziell beteiligen und nur als Manager unter GDL arbeiten, bestenfalls könnten wir bis zu 49% der Investitionssumme einlegen. Mehr ginge nicht, denn als Westler durften wir nur in Verbindung mit einem laotischen Partner, der die Mehrheit hielt, Geschäfte machen. Über die Firma besäßen wir den Status als Angestellte. Visum und Arbeitserlaubnis wären also kein Problem. Soweit alles nachvollziehbar und supi.
Zu ‚uns-nicht-kennen’ meinte Vianney nur kurz: „Mir reicht es schon, eure leuchteten Augen zu sehen.” Das ist mal ein Vertrauensvorschuss, denken wir und haben den Franzmann direkt ins Herz geschlossen. Wann wir denn loslegen wollten, fragte er. Wir rechneten nach…wir beenden erstmal unsere Weltreise, die dauerte noch vier Monate. Dann erstmal etwas Geld sparen und alles gut vorbereiten und organisieren. Job kündigen, Wohnung aufgeben, Auto verkaufen…
„In two years?”, kam es aus mir raus, mehr als zaghafte Frage gestellt. Vianney: „In two years? We can start in two weeks! In two years it´s too late.” Bämm. Uli und ich guckten uns bedröppelt an. Das war jetzt etwas plötzlich. „Ähm, let us think about it”, meinte Uli, „we will tell you tomorrow.” Tomorrow schon Bescheid geben? Ja richtig, unser Visum für Laos lief am folgenden Tag aus und wir wollten weiter nach Vietnam ziehen. Wir vereinbarten, dass wir am nächsten Morgen wiederkommen und ihm unsere Entscheidung mitteilen.
Die Entscheidung
Als wir das GDL-Büro verließen, war es schon Abendbrotzeit. In einem der zahlreichen Straßenständen dinierten wir ein Pad Thai und ein Reis mit Knusperschwein, danach gingen wir noch für ein, zwei, drei Beer Lao-Biere ins ‚Sticky Fingers’, einer von einer Australierin geführten und bei Expats sehr angesagten Bar in einer der beiden Haupt-Touristenstraßen. Hier ein wenig Hintergrundinformation: Beer Lao, oder genauer gesagt die Bierbrauerei Lao Brewery Company, war, zumindest 2006, der größte Steuerzahler in Laos. Jedes laotische Restaurant, ob in Vientiane, Vang Vieng oder Thakhek, war bestückt mit den orangefarbenen Leuchtreklamen, Außentafeln, Wachstischdecken, Klopapierrollen-Plastikbehältern als Serviettenständer-Ersatz, Gläsern, Wimpeln und Bierkühlern des Unternehmens Beer Lao. Offensichtlich legt man in Laos nicht so viel Wert auf Individualität, sondern Konformität. Uns aber egal, das Bier schmeckt hervorragend und war und ist immer noch verdammt günstig. Nun aber zu der eigentlichen Frage, die uns den ganzen Abend durch den Kopf jagte: Sollen wir das Angebot annehmen? Nicht nur unsere Reisepläne ändern, sondern unser ganzes Leben umbasteln? Sollen wir die restlichen vier Monate unserer Weltreise schon an dem Projekt Klettercamp arbeiten? Und diesen Entschluss innerhalb eines Abends fällen? Oder doch lieber weiterhin in sicheren Gefilden bleiben und diese Chance verstreichen lassen? Wir waren total aufgekratzt, redeten den ganzen Abend nur Blödsinn und waren weit davon entfernt, rational zu denken. Ein französisches Touristenpärchen, dass zufällig mit an unserem Tisch saß, quatschen wir wahrscheinlich ziemlich voll mit unserem unsortierten Gedankenmüll.
Auf dem Rückweg zum Hotel wurden wir ruhiger, ab und zu schauten wir uns an, fragten abwechselnd: „Und, was meinst du?” „Mmh, keine Ahnung, einerseits…aber andererseits…” Eigentlich stand die Antwort schon lange fest, dennoch brauchten wir wenigstens ein paar Stunden, um diese grundlegende Entscheidung sacken zu lassen. Unsere Hirne wanden und verrenkten sich, unsere Köpfe qualmten vor Anstrengung, und ich glaube, mir wurde schlecht. Himmel, sag uns doch jemand, was wir tun sollen!